Der Weg des Kung Fu
Von den alten Dynastien bis in die moderne Welt
Kung Fu ist weit mehr als eine Kampfsportart – es ist ein über Jahrtausende gewachsenes Kulturerbe, das die Philosophie, Geschichte und Geisteshaltung Chinas widerspiegelt.
Was einst als einfache Kampf- und Überlebenskunst begann, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einem komplexen System der Selbstverteidigung, Körperbeherrschung und inneren Entwicklung.
Die Ursprünge des Kung Fu
Die Wurzeln der chinesischen Kampfkünste reichen über 3000 Jahre zurück.
Bereits während der Xia- und Shang-Dynastien (ca. 2000–1000 v. Chr.) nutzten Krieger Techniken zur Jagd, zum Schutz und zur militärischen Ausbildung.
In der Zhou-Dynastie (1046–256 v. Chr.) wurden diese Techniken erstmals systematisiert: Körperhaltung, Standformen, Waffenführung und Bewegungsabläufe wurden festgelegt – damit gilt diese Epoche als Geburtsstunde des organisierten Kampfkunsttrainings.
([Peter Lorge, Chinese Martial Arts – From Antiquity to the Twenty-First Century, Cambridge University Press 2012])
Doch schon damals war Kung Fu mehr als bloße Technik. Der Begriff „功夫 / Gōng Fū“ bedeutete ursprünglich „durch harte Arbeit erworbene Fertigkeit“ – gleich ob im Handwerk, in der Malerei oder im Kampf.
Erst später wurde „Kung Fu“ zum Sammelbegriff für die vielfältigen chinesischen Kampfkünste.
Der Shaolin-Tempel – Wiege der Legende
Einer der bekanntesten Ursprungsorte des Kung Fu ist das Shaolin-Kloster in der Provinz Henan.
Laut Überlieferung brachte der buddhistische Mönch Bodhidharma (chin. Da Mo) im 5. Jahrhundert n. Chr. Übungen nach China, um den Mönchen zu körperlicher und geistiger Stärke zu verhelfen.
Diese Geschichte wurde über Jahrhunderte weitergegeben und prägte das Bild des „Shaolin-Kung-Fu“.
Mythos oder Wahrheit?
Moderne Forschung zeigt jedoch, dass diese Erzählung symbolisch, nicht historisch belegt ist.
Die ersten schriftlichen Belege für die Bodhidharma-Geschichte stammen erst aus dem 17. Jahrhundert, also über 1000 Jahre nach den angeblichen Ereignissen.
([chinesemartialstudies.com, 2016; Jissenkarate.com, 2018])
Heute gilt Bodhidharma als mythischer Kulturstifter, nicht als realer Gründer der Kampfkünste.
Das Shaolin-Kung-Fu entstand vielmehr aus einer jahrhundertelangen Entwicklung, bei der Meditation, Bewegungslehre, Selbstverteidigung und Philosophie miteinander verschmolzen.
([Lu Zhouxiang, A History of Shaolin – Buddhism, Kung Fu and Identity, Routledge 2020])
Entwicklung der Stilrichtungen
Im Laufe der chinesischen Geschichte entstanden Hunderte von Kung-Fu-Stilen.
Während der Kaiserzeit entwickelten sich lokale Schulen, Familienlinien und Klostertraditionen.
Dabei unterschieden sich vor allem zwei Hauptströmungen:
Nördliche Stile (Beispiel: Chang Quan / „Langer Fauststil“)
Weite, dynamische Bewegungen, hohe Sprünge, fließende Abläufe.Südliche Stile (Beispiel: Hung Gar, Wing Chun)
Tiefe Stände, kurze, kraftvolle Techniken, Fokus auf Stabilität und direkter Kraftübertragung.
Ab dem 17. Jahrhundert begann eine starke Durchmischung der Systeme: Meister wanderten, tauschten Techniken aus oder verbanden unterschiedliche Schulen zu neuen Stilen.
Die Gründung des Central Guoshu Institute im Jahr 1928 war schließlich ein Wendepunkt – die chinesische Regierung versuchte, alle Kampfkünste unter dem Begriff „Guoshu“ („nationale Kunst“) zu vereinigen und zu fördern.
([britannica.com, en.wikipedia.org/wiki/Central_Guoshu_Institute])
Die weltweite Verbreitung des Kung Fu
Mit der Auswanderung chinesischer Gemeinschaften im 19. und 20. Jahrhundert gelangte Kung Fu nach Südostasien, Amerika und Europa.
In den chinesischen Vierteln großer Städte – etwa in San Francisco, Vancouver oder Singapur – entstanden erste Kung-Fu-Schulen außerhalb Chinas.
([cheeloh.medium.com, The Global Influence of Chinese Kung Fu, 2023])
In den 1960er- und 1970er-Jahren erreichte Kung Fu durch Filmlegenden wie Bruce Lee, Jackie Chan oder Jet Li weltweite Popularität.
Bruce Lee brachte mit Jeet Kune Do die Idee der freien, anpassungsfähigen Kampfkunst in den Westen – inspiriert von traditionellen Kung-Fu-Prinzipien.
Einfluss auf andere Kampfkünste
Kung Fu beeinflusste viele moderne Kampfsysteme direkt oder indirekt:
Karate (Japan / Okinawa) übernahm in seinen Frühformen Techniken aus südchinesischen Stilen wie Fujian-White Crane Kung Fu.
Taekwondo (Korea) entwickelte sich aus Karate – und trägt somit ebenfalls Spuren chinesischer Bewegungslehre.
Escrima / Arnis (Philippinen) übernahm von chinesischen Händlern Methoden der Waffenführung und Distanzkontrolle.
Kajukenbo (Hawaii, 1947 – 1949), das später die Basis des Wun Hop Kuen Do wurde, vereinte Techniken aus Kenpo, Judo, Jiu Jitsu, Karate und Kung Fu zu einem modernen, praxisorientierten Selbstverteidigungssystem.
([kajukenbo.org; en.wikipedia.org/wiki/Kajukenbo])
Diese Verschmelzung führte schließlich zu einem neuen Verständnis von Kampfkunst:
Weg vom Dogma, hin zu Effektivität, Anpassungsfähigkeit und persönlicher Entwicklung – Werte, die bis heute das moderne Kung Fu prägen.
Kung Fu heute – Tradition und Wandel
Heute existieren weltweit Hunderte Schulen und Stile, von traditionellem Shaolin Quan über sportliches Wushu bis zu modernen Systemen wie Wun Hop Kuen Do.
Allen gemeinsam ist die Philosophie, dass wahres Kung Fu durch Disziplin, Achtsamkeit und Lebenspraxis entsteht.
Neben Technik und Selbstverteidigung stehen Gesundheit, mentale Stärke und Charakterbildung im Mittelpunkt.
Diese Werte machen Kung Fu auch in unserer modernen Welt relevant – als Brücke zwischen Körper, Geist und Kultur.
„Der höchste Sieg ist nicht der über den Gegner,
sondern der über sich selbst.“
– Chinesisches Sprichwort
Quellen & weiterführende Literatur
Peter A. Lorge: Chinese Martial Arts: From Antiquity to the Twenty-First Century. Cambridge University Press, 2012.
Lu Zhouxiang: A History of Shaolin: Buddhism, Kung Fu and Identity. Routledge, 2020.
The Chinese Martial Arts in Historical Perspective. JSTOR Artikel.
The Development and Reflection on the Traditional Martial Arts Culture. Atlantis Press, 2017.
The Invention of Martial Arts: Popular Culture Between Asia and America. Oxford University Press, 2020.
Making Martial Arts History Matter. Cardiff University Press, 2016.
chinesemartialstudies.com – wissenschaftliche Analysen zu Mythen, Bodhidharma und Shaolin.
kajukenbo.org – Historie des Kajukenbo-Systems.
britannica.com – Enzyklopädische Übersicht.